Demokratie oder Hierarchie?
Entscheidungsfindung im Pétanque kann so oder so funktionieren oder schiefgehen
In vielen Teams geht kaum jemand wie selbstverständlich in den Kreis, nachdem der Gegner
den Punkt erobert hat. Scheinbar ratlos schauen sich die Akteure an, so als hätte der Gegner
gerade einen genialen Schachzug gelandet, den zu beantworten hochkomplizierte Abwägungen
erfordert.
Legen oder schießen
Dabei ist in mindestens 80%, eher 90% aller Spielsituationen für BoulistInnen mit Spielerfahrung
eindeutig, was zu tun ist. Über den Rest läßt sich sagen, dass in wiederum 80%, eher 90%
dieser Fälle Legen oder Schießen gleichermaßen richtig wäre, vorausgesetzt, es würde jeweils
gelingen - sprich, der Leger käme “rein” bzw. der Schießer träfe. Stimmen die genannten
Prozentangaben, blieben ca. 2% an Spielsituationen übrig, für die ein wirklicher
Erörterungsbedarf gegeben wäre.
Wortlose Demokratie
Für diese wenigen Fälle sollte sich ein Team mit sportlichen Ambitionen und demokratischer
Reife grundsätzlich auf das Verfahren einigen, daß derjenige, der zuerst Verantwortung
übernehmen will, d.h. der zuerst in den Kreis geht, immer “Recht” hat. Wenn sich der Leger
zuerst bewegt, wird gelegt, wenn es der Schießer ist, wird geschossen, wenn der Milieu ein Bec
an der Punktkugel mit einem Portée suchen oder die Sau ziehen will, spielt er sein Ding.
Voraussetzung wäre, dass ein Veto aus taktischen Gründen nicht zur Debatte steht, etwa wenn
der Schießer schießen will und übersehen hat, daß der Gegner bei einem etwaigen Loch zwei
Schüsse für drei plus was liegen bliebe hätte. Aber so etwas übersieht ein erfahrener Schießer
in aller Regel nicht, es sei denn mit Absicht, um zu pokern und sein Gegenüber zu diesen
beiden Schüssen zu verleiten.
Das klingt paradox: Ausgerechnet die Demokratiefähigkeit der Akteure soll sich darin zeigen,
dass sie nicht kommunizieren, also das Elixier einer echten Demokratie nicht praktizieren? Ja!
Ob nämlich der Schießer trifft oder ob der Leger reinkommt, ist leider - andere würden sagen
glücklicherweise - einer demokratischen Entscheidung objektiv nicht zugänglich.
Erfahrene Spieler wissen das natürlich und quatschen nicht lang rum. Nur: so abgeklärt,
erfolgszuversichtlich und ent-scheidungsfreudig zu sein, ist wirklich viel verlangt und selten
anzutreffen. Damit nicht genug: Diese Methode verlangt auch emotionale Größe. Die Akteure
müssen dem, der Verantwortung übernehmen will, ein hohes Maß an Vertrauen und Akzeptanz
entgegenbringen, gerade auch dann, wenn dessen Aktion dann mißlingen sollte.
Verantwortung übernehmen
Wenn derjenige, der zuerst in den Kreis geht, immer “Recht” haben soll, stärkt sich dieses Team
in vielfältiger Weise:
1. Es braucht fast nie verbal zu kommunizieren. Jede bzw. jeder kann sich auf die wesentlichen
Dinge fokussieren, etwa wie er/sie die nächste Kugel zu spielen gedenkt.
2. Schuldfragen können sich gar nicht erst stellen. Man hat keine Nebenkriegsschauplätze.
3. Die Eigenverantwortlichkeit kann sich gut entwickeln.
4. Wenn der Gegner nicht weiß, warum wer in deinem Team wann was tut, wird‘s ihm schnell
unheimlich.
5. Wenn alles wie selbstverständlich abläuft und zudem noch relativ oft gelingt, unterstellt der
Gegner dir eine Professionalität als Spieler/in, obwohl es eigentlich nur deine professionelle
Denke oder deine demokratische Reife ist.
Ein wenig überspitzt könnte man sagen, dass jedes Gespräch, jede taktische Abwägung
innerhalb eines Teams überflüssig, ja sinnlos ist, es sei denn, der Fall tritt ein, dass der Schießer
schießen und der Leger gleichzeitig legen will. Wenn also jeweils derjenige Verantwortung
übernehmen will, der fürs Gelingen zuständig wäre, kann sich ausnahmsweise eine Erörterung
lohnen, zumal sich hinterher die dämliche Frage, wer Recht hatte, nicht stellen wird.
Die Erfahrung lehrt allerdings, dass Mannschaften mit solchen Gepflogenheiten im Pétanque
höchst selten zu beobachten sind, selbst unter den Spitzenakteuren beherrschen nur wenige
diese Art zu spielen.
Wortlose Hierarchie
Wenn ein starkes Gefälle in der Ausprägung der oben genannten Merkmale innerhalb einer
Doublette o. Triplette existiert, muss der Stärkste die Verantwortung übernehmen. Er muss
technisch nicht der Beste sein, aber er muss die meiste Erfahrung und die entsprechende
Entscheidungfreude besitzen. Er ist dann einfach deshalb Chef, weil er von seinen Partnern aus
freien Stücken mit dieser Autorität ausgestattet wurde.
Auch in dieser Konstellation muss ein Team mit professionellen Ambitionen taktische
Maßnahmen kaum verbal erörtern. Nehmen wir mal an, der Chef sei Milieu in einer Triplette. Es
ergibt sich eine Situation, in der es gleichermaßen Sinn macht, zu legen oder zu schießen. Dann
langt ein Blick des Chefs in Richtung des für den jeweiligen Job Verantwortlichen und es wird
halt gelegt oder geschossen, je nachdem, wohin der Chef seine Signale ausgesandt hat.
Basta.
Wer das mit einer Kasernenhofsituation verwechselt, hat den Witz der Übung nicht kapiert.
Die Partner haben ihren Chef nämlich nicht nur aus freien Stücken zum Chef gemacht, sondern
auch aus Weisheit. Sie wissen, wie angenehm es sein kann, mit taktischen Entscheidungen in
der Regel nichts am Hut zu haben, wie gut man sich dann auf das Spielen seiner Kugeln
konzentrieren kann. Sie beneiden ihren Chef nicht einen Moment um seinen Job.
Die beiden skizzierten Interaktionsmodelle, einmal für Teams mit einer demokratischen
Entscheidungsstruktur, zum anderen mit einer hierarchischen, beschreiben Idealfälle, die
tatsächlich (leider selten) auf französischen Nationaux so zu beobachten sind.
Aber keine Sorge. Auch dort wimmelt es von Neurotikern und Wichtigtuern, von
Demokratieunfähigen oder Möchtegernchefs. Die folgenden Interaktionsmodelle, die nicht
funktionieren können (ein demokratisches und drei hierarchische), sind nicht nur auf
teutonischen Bouleplätzen zu beobachten. Es menschelt halt überall auf der Welt.
Angsthasen-Demokratie
Wir kommen auf die eingangs skizzierte Situation zurück, die Gretchenfrage im Pétanque:
Legen oder Schießen. Bei den meisten Teams, die man auf Turnieren belauschen kann, ist es ja
oft so, dass der Leger vorschlägt, dass geschossen werden soll und der Schießer, dass gelegt
werden soll.
Solch ein Team hat praktisch schon alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Denn
wenn für das Gelingen der Umsetzung der besprochenen Taktik nicht der Urheber, sondern der
Partner die Verantwortung haben wird, muß dieser Partner bei Nicht-Gelingen nach der
Ausführung quasi auf der Stelle rausprusten:
“Siehste, ich hab ja gleich gesagt, wir hätten besser ...”. Das muss er deshalb, weil er ja gar
nicht vorhatte, Verantwortung zu übernehmen, sondern sie an den Partner loswerden wollte,
indem er eine Taktik vorschlug, mit deren Ausführung und Gelingen er nichts zu tun haben
würde. Er will auf keinen Fall Schuld haben und er hätte ja auch keine, wenn er sich mit seinem
taktischen Vorschlag durchgesetzt hätte. Bei dessen (vielleicht ebenso erfolgloser) Umsetzung
hätte wenigstens der andere Schuld.
Demokratie erfordert ja nicht nur Menschen mit mehrheitsfähigen Ideen, sondern auch solche,
die sie umsetzen. Und wenn letztere immer die anderen sind, kann Demokratie nicht wirklich
funktionieren. Die besten Ideen sind tragischerweise oft nicht mehrheitsfähig, weil ihre
Vermittlung nicht gelingt oder man Verantwortung übernehmen müsste, wenn man ihnen
zustimmte.
Möchtegern-Chefs
Das Chef-Modell kann nicht funktionieren, wenn die Chefs nicht vor dem Hintergrund einer
demokratischen Kultur aller Beteiligten Chef geworden sind, sondern sich hauptsächlich selber
dafür halten. Das gilt auch, wenn sie technisch und taktisch tatsächlich die kompetentesten sind,
in Sachen Teamfähigkeit und Menschenführung aber unterbelichtet sind, weil sie von einer
narzistischen Geltungssucht regiert werden.
Solche Doublettes oder Triplettes zerbrechen immer schnell, weil die emotionalen Verletzungen,
die ein Chef mit Profilneurose seinen Partnern zufügt, nicht lang zu ertragen sind. Jetzt, wo er
sechs Jahre auf keinem Boulodrôme mehr gesehen ward, darf man es wohl aussprechen: wenn
es einen Banga nicht leibhaftig gegeben hätte, ein Filmregisseur hätte ihn für solch eine Rolle
nicht besser erfinden können.
Verlegenheits-Chefs
Noch trauriger ist es, Chefs zu beobachten, die aufgrund der Ängstlichkeit ihrer Partner in die
Rolle hineingeschlüpft sind bzw. unausgesprochen von ihnen hineingedrängt worden sind. Das
muss man sich als längeren Prozeß vorstellen.
Wenn keiner im Team wirklich erfolgszuversichtlich und ent-scheidungsfreudig ist, einer aber
etwas weniger ängstlich ist, als die anderen, dann ist es fast egal, ob sie im “Hierarchie-Modus”
oder im “Demokratie-Modus” spielen.
Wirklich weit kommen werden sie selten, weil allein schon ihre Ausstrahlung keinem starken
Gegner Respekt einflößen kann. Aber: sie kommen oft ins Achtelfinale A oder Viertelfinale B
oder Halbfinale C. Diese Erfolge reichen, wie man in der lernpsychologischen Fachsprache sagt,
als intermittierende Verstärkung aus, damit eine solche Mannschaft in dieser Konstellation
immer weiterspielt.
“Unser Chef ist ja wenigstens kein Böser, die richtigen Cracks spielen sowieso nicht mit uns,
was können wir schon anderes tun?” Diese ‘emotionale Geschäftsgrundlage’ ist zwar traurig,
funktioniert aber selbst nach dem zehnten Turnier, wo man wieder kurz vorm Geld abgekackt
hat, weiter. Apropos ‘intermittierende Verstärkung’: alle Geldspielautomaten sind nach dieser
Gesetzmäßigkeit programmiert. Die Spielsüchtigen bleiben bei der Stange, weil der Automat im
Schnitt jedes siebte bis neunte Mal was ausspuckt.
Gauleiter-Chefs
Am allerschlimmsten sind diejenigen Chefs, die die Situation auf dem Bouleplatz von der auf
dem Kasernenhof nicht unterscheiden können. Da ihre taktischen und technischen Befehle nicht
von echten Kenntnissen getrübt sind und deren Ausführung oft misslingen muss, versuchen sie
Ihre höchst fragwürdige Autorität durch ihr immer autoritärer werdendes Gebaren aufrecht zu
erhalten.
Und was ganz bitter ist: auch dieses Chefmodell funktioniert eine zeitlang. Die ängstlich-autoritär
strukturierten (um nicht zu sagen masochistischen) Partner, die sich so einen Gauleiter gefallen
lassen, haben - objektiv betrachtet - natürlich selbst Schuld.
Sie brechen aber, wenn sie den letzten Anflug von Selbstachtung noch nicht verloren haben,
früher oder später aus dem Gefängnis aus. Dann sind sie zwar den Gauleiter los, ihre Ängste
noch lange nicht. Was sollen sie bloß tun? Ein mißerfolgsängstlich strukturiertes Gemüt in ein
erfolgszuversichtliches zu verwandeln, würde selbst beim besten Psychologen Jahre dauern
und keine Krankenkasse bezahlt’s. Billiger: Wieder und wieder die ersten beiden Kapitel über
wortlose Demokratie und wortlose Hierarchie studieren und sich ein Modell aussuchen!
04.07.28-V.V.
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